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Pflegeheim

Oktober 2018


Unsere Mutter kam am 21.11.2016 als Pflegefall von Köln ins Altenpflegeheim Kronberg. Dort fühlte sie sich auf Anhieb wohl und war stolz darauf, gegenüber jungen Pflegekräften ihre englischen und französischen Sprachkenntnisse darzutun. „Von mir könnt ihr noch etwas lernen!“ Sie konnte sogar noch ein mehrstrophiges, französisches Gedicht aus der Schulzeit aufsagen. Unser Vater zog in die Einliegerwohnung bei Uschi ein und lief jeden Nachmittag von dort ins Pflegeheim und kümmerte sich um seine Frau. Darin war er sehr treu. Nach und nach baute er zu allen Mitarbeitern eine eigene Beziehung auf. Der geistige Verfall unserer Mutter verlief rasch, und sie starb schließlich am 11.2.2017.

Daraufhin änderte unser Vater seine Beziehung zum Pflegeheim. Er entschied sich, von nun an täglich jeden Tag dorthin zum Mittagessen zu gehen. Er wollte unabhängig von der Versorgung durch Uschi sein, die sowieso einen abwechslungsreichen Tages- und Wochenrhythmus hat. Er brauche die tägliche Bewegung. Er wolle über die Teilnahme an Gemeindeveranstaltungen hinaus täglichen Kontakt zu andern Leuten haben. Diesbezüglich riet ich ihm angesichts der Namensliste der Empfänger der Todesanzeige unserer Mutter, die 236 Personen umfaßte, täglich zwei Leute anzurufen. Dies machte er umgehend und erzählte mir bei jedem Besuch oder Telefonat, mit wem er gerade telefoniert hatte oder eine E-Mail ausgetauscht hätte. Dave berichtete mir einmal, daß sein Schwiegervater täglich zwischen zwei bis fünf Stunden telefoniere. Somit kein Wunder, daß er im Altenpflegeheim rasch feststellte, daß seine Altersgenossen jeder still vor sich hin ihre Mahlzeit zu sich nahmen. Sofort übernahm er es, alle am Schluß aufzufordern, die leeren Teller zusammenzustellen, damit es die Mitarbeiter beim Abräumen leichter hätten. Damit brachte er sie dazu, in kleinen Schritten einfachen Kontakt miteinander aufzunehmen und sich nach und nach auch ein wenig zu unterhalten. Er schrieb auch den Mitarbeitern der Küche einen Dankesbrief. So behielt er die alten Kontakte bei und knüpfte neue Beziehungen.

Oft erzählte er mir, daß er mit Interesse und großer Verwunderung im Internet Informationen über Einzelheiten zum Zweiten Weltkrieg entdecke, was sein Wissen über diese Zeit erweitere.    

Anderthalb Jahre später klagte er zunehmend über Schwindel, ohne daß eine Ursache gefunden werden konnte. Schließlich stürzte er am 17.7.2018 auf dem Weg zum Mittagessen bei einer starken Schwindelattacke und zog sich einen Oberschenkelhalsbruch zu. Bis zum 2.8.2018 wurde er deshalb im Klinikum Wetzlar-Braunfels stationär behandelt. Dort kam er anders als erwartet nicht mehr auf die Beine. Die Anfänge einer Demenz vom Alzheimer-Typ, bei der seine Gehirnzellen langsam und gleichmäßig ihre Tätigkeit einstellen, waren zu erkennen. Er erhielt Medikamente zur Förderung der verbliebenen Denkstrukturen. Aber sie bewirkten das Gegenteil, indem sie ihm jeweils nur zur Nacht eine massive Verwirrtheit bescherten. Als er wieder in seine Wohnung zurückkehrte, war er zum Pflegefall geworden und konnte nicht zuhause bleiben. Er zog sofort ins vertraute Altenpflegeheim um. Er erhielt ein Zimmer auf demselben Flur wie unsere Mutter damals, nur zwei Zimmer weiter. 

Auf mein Anraten als Psychiater hin wurden die verordneten Medikamente rasch ausgeschlichen. Ergebnis: Binnen weniger Tage war er wieder rund um die Uhr klar im Kopf, nur halt ein wenig vergesslich und schlief wieder normal. Nur vorübergehend erwog er, in seine Wohnung zurückzukehren und sich dort Essen auf Rädern bringen zu lassen. Dann entschied er, daß er im Heim besser aufgehoben sei und vor allem nicht von seinen geliebten Sozialkontakten abgeschnitten sei. Er wollte weiterhin seine Mitbewohner beim Essen treffen. Etliche neue Bekannte aus der FeG Ewersbach schauten, wenn diese ihre Angehörige besuchten, auch bei ihm vorbei. Somit nahm er, wenn auch aus zweiter Hand, am Geschehen in der FeG Ewersbach teil. Das Telefonieren und Mailschreiben behielt er bei. Er war ein aktiver Teilnehmer an allen im Pflegeheim angebotenen Veranstaltungen. 

Bei meinem Besuch am 19.8.2018 erzählte er lachend von seiner Fahrt vom Krankenhaus Braunfels nach Hause. Der Fahrer habe den Beifahrer gefragt, ob dieser gesehen hätte, wie viele Krankenschwestern sich bei ihm persönlich verabschiedet hätten. Demnach hätte mein Vater ja ein richtiger Schwerenöter sein müssen! Mein Vater ergänzte, daß er in der Tat in den letzten fünf Minuten viele Hände haben schütteln müssen. Er habe sich ja auch Mühe gegeben, zu jedem ein sehr persönliches Verhältnis zu entwickeln.

Im Sommer 2018 stand die Renovierung seines Zimmers und das eines ihm bis dahin unbekannten Mitbewohners an. Beide wurden gefragt, ob sie bereit seien, sich für wenige Tage in ein umgeräumtes Badezimmer ausquartieren zu lassen. Als mein Vater schließlich zu dem zwei Jahre älteren Mitbewohner in das Ausweichquartier geschoben wurde, fragte dieser ihn sofort, ob er auch Soldat gewesen sei. Das habe er bejahen können. Der Mitbewohner sei zuletzt in Norwegen gewesen. Sie hätten sich auf Anhieb verstanden und hätten ihre Erinnerungen an die Kriegszeit ausgetauscht. Besonders beeindruckt hätte meinen Vater, daß der andere bei der HJ ein höherer Führer gewesen sei, während er doch nur ein einfacher Pimpf gewesen sei. Den Kontakt zueinander hätten die beiden Männer auch nach der Rückkehr in ihre renovierten Zimmer weiterhin gehalten.    

Am 4.3.2019 erlitt mein Vater einen Schlaganfall und kam deshalb bis zum 28.3.2019 in Kreisklinikum Siegen in die Klinik für Neurologie. Dort wurde die Ursache seines Schwindels, eine Gefäßverengung in einer der Arterien, die das Blut zum Gehirn leiten, entdeckt. Daran ließ sich nichts ändern. Der Schwindel wurde gegen Ende seines Lebens immer schlimmer und verleidete ihm das Leben. Ebenso ließ sich auch an seinen plötzlich aufgetretenen Doppelbildern nichts mehr ändern. Er mußte von da an seine Brille mit einem zugeklebten Glas tragen. Das nahm er mit Humor. 

93. Geburtstag (8.6.2019) in seinem Zimmer

Er ließ sich davon aber nicht unterkriegen. So besuchte ich am 22.1.2020 meinen Vater abends auf dem Heimweg aus dem Rheinland in den Vogelsberg, wo ich wohne. Ich traf um 18.45 Uhr ein. Er saß am PC und verfaßte gerade einen Geburtstagsgruß für einen 100-jährigen Mitbewohner: Blumenfoto, persönliche Gratulation und Abschrift der ersten Strophe von Gemeindepsalter-Lied Nr. 582: 

„Mein Leben ruht in Gottes Hand,
ihm ist mein Pilgerlauf bekannt
vom Anfang bis zum letzten Ende.
Er kannte mich, da ich nicht war,
er gab mir Leben wunderbar,
ich war gelegt in seine Hände.
Drum sorg ich nicht im Pilgrimstand:
mein Leben ruht in Gottes Hand.“ 

Ich kannte das Lied nicht. Er sagte, er habe es auch erst dadurch entdeckt, daß er einer alten Freundin morgens regelmäßig Liedstrophen aus dem Gemeindepsalter vorlese. 

Dann berichtete er noch, wie er eine alte Dame, die zur Kurzzeitpflege gekommen sei, mit ihnen am Tisch sitze, geistig noch klar sei, aber körperlich zu schwach, um den Nachtisch zu essen, spontan gefüttert hätte, so wie er unsere Mutter gefüttert hätte. Als die Pflege gekommen sei, sei die Mitarbeiterin sehr überrascht gewesen, ihn bei dieser Tätigkeit zu sehen. Das hätten sie ja noch nie gehabt, daß ein Bewohner den anderen füttere. Er habe nur darauf verwiesen, daß er das bei seiner Frau ja genauso gemacht hätte. 

Bei meinem letzten Besuch bei ihm kurz vorm vierten Advent klopfte es an der Tür. Eine Mitbewohnerin, die regelmäßig mit ihm beim Mittagessen saß, kam mit ihrem Rollator herein. Ein Weihnachtsbrief eines alten Freundes meines Vaters sei aus Versehen bei ihr gelandet. Den wolle sie vorbeibringen. Ich hatte besagten Freund auch noch in Erinnerung. Dieser hatte vor einigen Jahrzehnten – ich war damals noch ein Jugendlicher - in der Nacht vor dem Geburtstag meiner Mutter bei meinen Eltern übernachtet und erfuhr erst morgens von der Besonderheit dieses Tages. Mangels eines Geschenks gratulierte er meiner Mutter mit Sprüche 26,14. Meine Mutter war neugierig und schaute sofort nach. Was las sie laut vor? „Ein Fauler wendet sich im Bett wie die Tür in der Angel.“ Wir fingen alle an zu lachen. Denn meiner Mutter konnte man etliche Schwächen vorhalten, aber nie Faulheit. Sie war immer in Action. Der Freund hatte die Angaben von Kapitel und Vers verwechselt. In Sprüche 14,26 steht nämlich: „Wer den HERRN fürchtet, hat eine sichere Festung, und auch seine Kinder werden beschirmt.“.  Also erzählte ich diese Begebenheit, worüber wir nun zu dritt lachten. Somit wurde der von meinem Vater beklagte Zwang, wegen Corona nun wie ein Einzelgänger leben zu müssen, etwas gemildert. 

Für die Unterstützung unserer Familie bei der Begleitung unsers Vaters auf seinem Sterbebett durch das Pflegeteam möchte ich mich hiermit noch einmal ausdrücklich bedanken!

Da Uschi zu den ehrenamtlichen Helfern gehört, die Besucher in Empfang nehmen, wird die Beziehung unserer Familie zum Altenpflegeheim Kronberg vorerst nicht abreißen.


Kommentare

Anonym hat gesagt…
"Das Schönste, was ein Mensch hinterlassen kann, ist ein Lächeln im Gesicht derjenigen, die an ihn denken."
"Christus spricht: Ich bin die Auferstehung und das Leben. Wer an mich glaubt, der wird leben, auch wenn er stirbt; und wer da lebt und glaubt an mich, der wird nimmermehr sterben. Joh. 11,25"

Ihr lieben Rödersfamilien,
wir sagen Euch unser herzliches Beileid zum Heimgang eures lieben Vaters. Ich persönlich habe ihn sehr liebgewonnen in der Zeit, wo der Kronberg sein Zuhause war, und werde die Gemeinschaft mit ihm sehr vermissen. Ich weiß aber auch, dass er in der letzten Zeit sehr Heimweh nach seinem Röschen hatte, und bin gewiß, dass die beiden es jetzt gut haben. Seid getröstet mit der Kraft, die nur Jesus geben kann. Uschi u. Wolfgang Haas
Friedhelm Röder hat gesagt…
Kurze Zeit, nachdem mein Vater ins Pflegeheim gezogen war, meinte er zu mir lachend: „Da habe ich nun über 90 Jahre alt werden müssen, um den Salat wieder so zubereitet zu erhalten, wie meine Mutter das gemacht hat. Sie kam nämlich aus dem Siegerland und bereitete den Salat süss zu, während die Mama ihn immer sauer angerichtet hat.“

Bald danach meinte er zu mir zu meiner Überraschung: „Eigentlich bin ich ja kein Kölner. Denn meine Mutter stammte aus dem Siegerland, also ziemlich in der Nähe von hier. Und mein Vater ist in der Nähe von Giessen geboren. Deshalb bezeichne ich mich nun hier als Spätheimkehrer!“

Er freute sich, unterm Pflegepersonal auch Kölner zu finden, mit denen er Kölsch sprechen konnte. Denn er war als Junge ja mit Kölsch als Muttersprache aufgewachsen.

In den letzten beiden Jahren, wo er bewusst auf den Tod wartete, stand bei der Verabschiedung immer die Frage im Raum, ob wir einander wieder treffen könnten oder ob der Tod dazwischentreten würde. Er löste diese Spannung auf typisch kölsche Art mit dem Abschiedsgruss: „Na dann, bis neulich!“

Worauf er im Pflegeheim zu seinem Leidwesen verzichten musste, war sein jahrzehntelang gepflegtes, gelegentliches Abendvergnügen, das darin bestand, dass er in einer grossen, weissen Regimentstasse seiner Eltern aus Haferflocken, Zucker, Kaba, Milch und einem Schuss Eckes Edelkirsch einen süßen Brei anrührte und diesen mit Strahlen in den Augen als „flüssige Praline“ lobte und genüsslich löffelte.
Friedhelm Röder hat gesagt…
Wenn die Pflegekraft täglich zu ihm kam, um die Körpertemperatur zu messen, wurde dafür nicht wie früher ein Quecksilberthermometer benutzt, sondern ein elektronisches, berührungsloses Stirnthermometer. Das wurde ihm von vorne dicht vor den Kopf gehalten. Es ähnelte der Form nach einer Pistole. Er pflegte die Mitarbeiterin dann mit der Scherzfrage zu begrüssen: "Na, werde ich mal wieder erschossen?"