Liebe Leser,
in den nächsten Tagen am 8.6.2021 wäre mein Vater 95 Jahre alt geworden. Sicherlich haben etliche von Ihnen seinen Geburtstag noch im Kopf und denken an diesem Tag an ihn und schauen hier im Blog nach, was es vielleicht Neues geben könnte.
Heute will ich die Aufmerksamkeit auf seinen Geburtstag am 8.6.1944 lenken. Da wurde er nämlich 18 Jahre alt. Und dieser spezielle Geburtstag blieb ihm auch bis zuletzt in besonderer Erinnerung. Der Grund dafür ist seiner Autobiographie zu entnehmen. Im Abschnitt über diese Zeit, die in „Soldatenzeit – Ausbildung in Holland“ nachzulesen ist, schrieb er:
„Unteroffizier Zeitel wird mir immer gut in Erinnerung bleiben wegen folgenden Vorfalls:
Wenn jemand Geburtstag hatte, bekam er normalerweise an dem Nachmittag dienstfrei. Ich hatte am 8.6. Geburtstag und wurde 18 Jahre alt. Da aber am 6.6. die Amerikaner in der Normandie gelandet waren, befanden wir uns in höchster Alarmbereitschaft, an einen freien Nachmittag war gar nicht zu denken. Das hatte mir der Spieß (Hauptfeldwebel und Mutter der Kompanie) schon gesagt. Gegen Mittag nach dem üblichen Exerzierdienst sagte Uffz. Zeitel: „Grenadier Röder vortreten. Ich habe gehört, sie haben heute Geburtstag. Die Gruppe kann einrücken, ich werde mit dem Grenadier Röder noch in den nahen Wald gehen und werde ihm einen Denkzettel verpassen, dass er ewig an seinen Geburtstag 1944 denken wird.“ Dann ging es auf und nieder, mit dem Gewehr quer auf dem Rücken vorrobben, nicht auf den Boden stoßen, mit dem vorgehenden Uffz. auf Höhe bleiben usw. usw. Ich hätte ihn umbringen mögen.“
Etliche Wochen später erfuhr mein Vater, wie das weitere Schicksal des besagten Unteroffiziers im Krieg verlaufen war. Ich zitiere aus seinem Bericht „Soldatenzeit – Erster Einsatz in Polen“:
„Eines Tages bekamen wir auch eine neue Auffrischung durch Soldaten, die wie ich aus Holland kamen und seit unserer Verlegung zur Ostfront mit denselben Ausbildern im Kampf gegen englische Luftlandetruppen bei Arnheim im Einsatz gewesen waren. Bei meiner Rückfrage nach Uffz. Zeitel erhielt ich die Auskunft, dass er schwer verwundet worden sei und ein Bein verloren habe. Meine Reaktion war nicht gut und immer noch vom Zorn bestimmt: „Schade, dass er noch lebt. Man hätte ihn totschießen sollen.“
Mein heutiger Kommentar dazu: So reagierte der Uffz. Zeitel als Sadist auf seine Angst davor, durch den Krieg ums Leben zu kommen und danach, weil er Sadist war, vergessen zu werden. Er nutzte seinen äußerst unangenehmen Charakter, um sich wenigstens mit dieser, vermutlich einzigen markanten Eigenschaft bei meinem Vater unauslöschlich ins Gedächtnis einzubrennen. Und das ist ihm, wie man sieht, bei meinem Vater sogar gelungen. Darüber hinaus hat mein Vater ihm in seiner Autobiographie sogar ein Mahnmal gesetzt, das es bis zur Übernahme in den Blog schaffte. Also so gesehen eine bemerkenswerte Karriere eines Mannes, der ein absoluter Gegenpol meines Vaters war. Ob er auch so alt wurde wie mein Vater? Ob er seine Angst vorm Vergessenwerden auch noch an anderen Rekruten ausgetobt hat?
Ich freue mich mit Ihnen, daß die Erinnerungen an meinen Vater so wohltuend gegenteilig sind.
Ihr Dr. Friedhelm Röder
![]() |
Zum 95. Geburtstag am 8.6.2021 |
Kommentare