Nächtliches Schneetreiben im hohen Vogelsberg
Liebe Leser,
seit meiner Jugend erlebte ich zu Beginn jedes Winters etwas Merkwürdiges, das ich mir jahrelang nicht erklären konnte. Beim ersten Schnee - und auch nur beim jeweils ersten Schnee eines Winters – ging mir immer folgender wehmütiger Satz durch den Kopf: „Ach die armen Soldaten damals im Schnee an der Ostfront!“ Ich wunderte mich über mich selber. Warum regelmäßig immer dieser eine Satz? Das kann doch nicht allein daran liegen, dass ich mich im Laufe der Jahre wechselnd intensiv mit der Geschichte des Zweiten Weltkrieges befasst habe! Denn dabei gibt es ja mehr Themen als nur die der Rolle des Schnees im Kampf gegen die Rote Armee.
Erst als ich im Zusammenhang mit dem Verfassen dieses Blogs anfing, die Geschichte meines Vaters sehr genau zu erforschen, ging mir auf einmal auf, woher dieser Gedanke stammte. Das lebensgefährliche Drama seiner Verwundung am 13. Februar 1945, das sich heute zum 77. Mal jährt, hatte sich mitten im nächtlichen Schnee abgespielt!
Und wer den weiteren Lebensweg meines Vaters verstehen will, findet hier einen wichtigen Schlüssel! Kein Wunder, dass er später bei seinen Besuchen in Vockenhausen gerne diesen Tag als seinen zweiten Geburtstag feierte. Übrigens hat er diesen Tag in den Jahrzehnten, in denen ich bei meinen Eltern lebte, nie gefeiert. Er hat nur in unregelmäßigen Abständen darüber gesprochen, wie entscheidend dieses Erleben für sein Leben war. Mit dem regelmäßigen Feiern dieses Tages, wie es Heide Bauer in ihrem Kommentar vom 25.1.2021 zur Seite „Mission“ beschrieb, den ich am 1.2.2021 auf derselben Seite kommentierte, hat er offensichtlich erst später begonnen. Mit diesem Feiern gewann er schließlich die innere Befreiung von dem Schrecken vor den lauernden Unwägbarkeiten des Lebens, die er unterschwellig mit sich getragen hatte und die ich als Kind bei ihm gespürt hatte.
Er hatte ja seine Autobiographie, die er bezeichnenderweise mit der Schilderung seiner Soldatenzeit begann, erst im Alter von 78/79 Jahren verfasst. Da waren wir Kinder schon lange aus dem Haus, und er hatte angefangen, systematisch über sein Leben nachzudenken und sich so von dieser Angst zu lösen. Somit konnte er anschließend auch im hohen Alter ohne große Mühe über seine Kriegserfahrungen sprechen, was die Väter mancher gleichaltriger Freunde von mir kaum bis gar nicht konnten.
Seit mir dieser Zusammenhang meiner Gedanken mit dem Erleben meines Vater klar geworden ist, fühle ich mich beim ersten Schnee weniger mit den armen Soldaten an der Ostfront, als vielmehr mit meinem Vater und seiner damaligen großen Not verbunden. Und die Schwerpunktbildung meines Vaters bei der Schilderung seines Lebens habe ich ja bei der Entwicklung des Gedenkblogs auch wie selbstverständlich übernommen, indem ich mit seiner Soldatenzeit begann, ehe ich die andern Themen ansprach.
Ich würde mich sehr freuen, wenn einige von Ihnen Ihre ähnlichen oder andersartigen Gedanken zu meinem Vater an diesem Punkt in Form eines Kommentars zu diesem Blog beitragen würden!
Zum Abschluss möchte ich Sie an meiner Erinnerung an ein Interview mit einer alten Zeitzeugin über deren dramatische Kriegs- und sonstige Lebenserinnerungen teilhaben lassen. Das war Anfang der 90er Jahre. Gegen Ende des Gesprächs über viele bewegte Zeiten meinte sie spontan zu mir: „Wissen Sie, Herr Dr. Röder, das Alter ab 80 ist der schönste Abschnitt des Lebens!“ Ich fragte verblüfft: „Wie das?“ „Nun, in diesem Alter hat man alle Schwierigkeiten des Lebens entweder erfolgreich gelöst oder schlicht überlebt! Ab da ist man für die übrig gebliebenen Probleme des Lebens nicht mehr zuständig, darum müssen sich nun die Jüngeren kümmern!“ Ich erlebte diese Dame noch bis Mitte 90 als eine ausgesprochen fröhliche Frau, die Neugier aufs Alter wecken konnte. Diesen Weg, den sicherlich der eine oder andere von Ihnen, liebe Leser auch kennen dürfte, ist ebenso mein Vater gegangen.
Mit herzlichen Grüßen
Ihr Dr. Friedhelm Röder
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